Zukunft der Sozialdemokratie

Als die SPD die Bundestagswahl 1998 mit 40,1 % der Stimmen gewann und kurz darauf die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder ihre Arbeit aufnahm, konnte sich wohl niemand vorstellen, dass die stolze und traditionsreiche Partei von Kurt Schumacher, Willy Brandt und Helmut Schmidt innerhalb von knapp 20 Jahren auf weit unter 20 % in den Umfragen sinken könnte. Wie kaum eine andere politische Kraft hat die Sozialdemokratische Partei die Geschicke der Bundesrepublik geprägt, hat während der Kanzlerschaft Willy Brandts den innergesellschaftlichen Ausgleich und die Modernisierung überkommener Strukturen angepackt und in der auswärtigen Politik mit Egon Bahrs Konzept von „Wandel durch Annäherung“ die neue Ostpolitik begründet, die sich zu einer wesentlichen Grundlage der deutschen Wiedervereinigung und des friedlichen Endes des Kalten Krieges in Europa entwickelte.

Meine Gedankenanstöße und Diskussionsanregungen hier sollen den Prozess der SPD konstruktiv begleiten, um wieder zu alter Stärke zurückzufinden. Die SPD befindet sich heute in einer doppelten Zerreißprobe: Nach außen gegenüber der Gesellschaft und insbesondere den einstigen Stammwählern und nach innen im verstärkten Machtkampf um Posten und Funktionen und einer zunehmenden Vergiftung des innerparteilichen Miteinanders. Einerseits werden in den letzten Jahren verstärkt und unausgewogen die Forderungen lautstarker Minderheiten, für die Geschlecht, Kultur und Religion die zentralen Identitätskategorien geworden sind, bedient. Dem Kohlekumpel oder der Metzgereifachverkäuferin hingegen, einst die Motoren sozialdemokratischer Erfolge, wird von der neuen linksintellektuellen Funktionärsschicht nunmehr Verachtung durch Ignoranz entgegengebracht. Manche diffamieren sie gar als Rassisten, Sexisten oder Umweltsünder, zum Beispiel wenn sie einen Diesel fahren. Der Journalist Holger Fuß beschreibt in seinem höchst lesenswerten Buch „Vielleicht will die SPD gar nicht, dass es sie gibt. Über das Ende einer Volkspartei“ diese Entwicklung der letzten Jahre in treffenden Worten:

„In keiner anderen Partei laufen die Problemlinien der deutschen Politik so gebündelt zusammen. In keiner anderen Partei werden aber auch die kulturellen Verwerfungen in diesem Lande so unverhüllt sichtbar. Und in keiner anderen Partei haben sich mit solcher Fallhöhe die Führungskader vom Lebensgefühl der eigenen Basismitglieder und Wähler entfremdet.“ (Holger Fuß 2019, S. 10)

Über die Wahrnehmung der ehemaligen Kerngruppen sozialdemokratischer Politikangebote durch die heute verantwortlichen Parteifunktionäre konstatiert Fuß in deutlichen Worten:

„Das Gutmenschentum dieses privilegierten Milieus beschränkt sich indes auf Empathie für Benachteiligte wie Frauen, Homosexuelle oder Ausländer, für einheimische Unterprivilegierte hat es eher Verachtung übrig. Den gebildeten Schichten sind Kleinbürger und Proletarier mit unspektakulärer Lebensführung tendenziell verdächtig, engstirnig, rassistisch, ja barbarisch zu sein.“ (ebd.) 

Aktuell zeigt sich dies in der Diskussion um die Aufnahme von Flüchtlingen aus Moria. Ich würde mir wünschen, dass Genossinnen und Genossen, die in dieser Debatte starken Einsatz für die Menschen aus Moria gezeigt haben, sich genauso engagiert für benachteiligte Menschen aus ihrem direkten Wohnumfeld, die oft vernachlässigt werden,  einsetzen. Ein wichtiger Aspekt ist die Rückschau auf die politischen Leistungen der SPD. Wenngleich manches im Nachhinein zu korrigieren war, hat das Reformpaket der Agenda 2010 unter Bundeskanzler Gerhard Schröder Deutschlands Weg in das 21. Jahrhundert als stärkste Volkswirtschaft Europas und eine der stärksten Volkswirtschaften weltweit geebnet. Darauf sollten Sozialdemokraten auch heute noch stolz sein!

Bei der Flüchtlingskrise 2015 sowie in den Folgejahren ist die SPD der fundamentalen Fehleinschätzung unterlegen, die Frage der inneren Sicherheit nicht als Teil der sozialen Frage aktiv zu thematisieren sowie wirtschaftliche Einwanderung und politisch-humanitäres Asyl gleichzusetzen. Wer in einer Villa mit privatem Sicherheitsschutz lebt, kann es sich freilich leisten, eine unbegrenzte Aufnahme von Migranten in unser Land zu fordern. Bei der fünfköpfigen Familie in der Mietwohnung einer deutschen Großstadt sieht dies hingegen anders aus. Auch haben andere sozialdemokratische Parteien, beispielsweise die SMER in der Slowakei, gezeigt, dass es sehr wohl möglich ist, innere und soziale Sicherheit gemeinsam zu denken. Otto Schily als Innenminister hätte, wie Holger Fuß zutreffend schreibt, „ideologisch viel unangreifbarer auf Rechtsstaatlichkeit und professionelle Organisation bei der Einwanderung pochen können als jeder Bundesinnenminister der Union“ (Fuß 2019, S. 86) und auch den Mut aufgebracht, Bundeskanzlerin Merkel die Grenzen des Regierungshandelns aufzuzeigen.

Erfolgreiche Einwanderungsländer wie Australien und Kanada, aber ebenso Dänemark praktizieren seit Jahren erfolgreich eine restriktive Einwanderungspolitik, die sich bei der überwiegenden Anzahl der Migrationsfälle, die nach unserem geltenden Recht über keinen Asylanspruch verfügen, zuvorderst an den Bedürfnissen des Landes sowie der Qualifikation und Integrationsfähigkeit der Einwanderer orientiert. Der Anwerbestopp für Gastarbeiter, den die sozialliberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt 1973 erlassen hatte, folgte der Logik, den westdeutschen Arbeitsmarkt und dessen infolge des erfolgreichen Wiederaufbaus gesunkenen Nachfrage nach Arbeitskräften zu befrieden. In seiner Regierungserklärung im selben Jahr erklärte Willy Brandt: „Es ist aber notwendig geworden, dass wir sehr sorgsam überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft und Verantwortung Halt gebieten“. Wenn es der SPD nicht möglich wird, die aufgrund dieser Fehlleistungen millionenfach zu rechten politischen Kräften abgewanderten Wähler wiederzugewinnen, bleiben Ergebnisse wie das von 1998 weiterhin eine Illusion.

Willy Brandt bei John F. Kennedy

Die Sozialdemokratie hat im letzten Jahrhundert gezeigt, dass sie als politische Kraft in der Lage ist, einen gesellschaftlichen Ausgleich in zentralen Fragen, welche die Menschen bewegen, zu vollbringen. Ich bleibe der Auffassung, dass die Grundwerte der Sozialdemokratischen Partei – Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – nach wie vor aktuell sind, jedoch wie es Willy Brandt formulierte, stets auf der Höhe der Zeit sein müssen, wenn Gutes bewirkt werden soll. Ein mehrheitsfähiges Konzept einer sozial gerechten, nicht bevormundenden sondern ermutigenden und chancenstiftenden Gesellschaft bleibt ein erstrebenswertes Ziel, dem ich mich bei meinem zukünftigen politischen Wirken weiterhin verpflichtet fühle.