Bedingungsloses Grundeinkommen

Die Veränderung unseres klassischen Erwerbslebens schreitet in großen Schritten voran. Was bereits in den 1970er Jahren mit dem verstärkten Übergang von der klassischen Industrie zum Dienstleistungssektor bemerkbar wurde, hat sich heute dergestalt weiterentwickelt, dass wir unser bisheriges Verständnis von der Organisation des Arbeitslebens dringend überdenken müssen.

Das Modell der tarifgebundenen, sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigung galt bis in die 1990er Jahre als ein berechtigtes Ideal der Sozialdemokratie und ermöglichte für die Masse der Bevölkerung ein gut funktionierendes Erwerbssystem im ordnungspolitischen Rahmen unserer sozialen Marktwirtschaft. Wenn man in die heutige Realität blickt, ist diese Vorstellung längst überholt, da dieses Modell nicht mehr auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse passt. Der Berufsalltag einer kontinuierlich wachsenden Anzahl von Erwerbstätigen steht vor neuen Herausforderungen. Flexibilität, hybride Veränderungen, das rapide Voranschreiten der Digitalisierung, Automatisierung und die globalisierte Weltwirtschaft prägen heute das Umfeld, in dem Arbeitnehmer ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Die unbefristete sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung wird mehr und mehr zu einem Überbleibsel aus dem 20. Jahrhundert, das zunehmend nur noch auf die Beschäftigten von Großkonzernen zutrifft. Hier offenbart sich ein eklatanter Widerspruch in der gesellschaftlichen und sozialpolitischen Debatte der letzten Jahre: Einerseits schaffen die Unternehmen der Großindustrie die hochwertigsten Arbeitsplätze, die durch Tarifverträge und soziale Absicherungen (wie beispielsweise Betriebsrenten sowie die Arbeitnehmermitbestimmung) umfassend reguliert sind. Zugleich aber werden gerade diese wirtschaftlichen Akteure am heftigsten in der politischen und gesellschaftlichen Debatte kritisiert. Fälle wie die Anklage gegen fünf Mitglieder des Betriebsrates bei Volkswagen, wo allein der Betriebsratsvorsitzende Bonuszahlungen in Höhe von 3,125 Millionen Euro kassierte, senken die Glaubwürdigkeit der betrieblichen Arbeitnehmervertretungen nachdrücklich. Diese Entwicklung kann man bemängeln, aber es braucht zukunftsfähige Lösungen zur Gestaltung der Arbeitswelt.

Wie lässt sich dieses Dilemma lösen? Ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle Bürgerinnen und Bürger wäre ein erster Schritt, der neuen Realität im Arbeitsleben gerecht zu werden und Unabhängigkeit, Mut und Kreativität zu fördern, die ganz neue Impulse freisetzen können. Durch zunehmende Beschäftigung mit diesem Konzept habe ich mich davon überzeugt, dass die akute Notwendigkeit besteht, hierüber eine sachliche politische Debatte zu führen, deren Ergebnis zur Stärkung der sozialen Marktwirtschaft in unserem Land beitragen kann. Das Gegenargument der Finanzierbarkeit wird vor dem Hintergrund der innerhalb kürzester Zeit mit enormen Beträgen durchgepeitschten Corona-Hilfsmaßnahmen oder auch angesichts der Bewältigung der Flüchtlingskrise von 2015 und den Folgejahren durch die politische Praxis widerlegt. Denn: Wo ein politischer Wille ist, gibt es immer einen Weg zur Umsetzung von finanzierungsintensiven Reformmaßnahmen. Bereits in den 1970er Jahren wurde beispielsweise die Besteuerung von Robotik in der Fertigung diskutiert. Auch kommt der Wertschöpfung durch Daten heute eine fundamentale Bedeutung zu, weshalb man über eine Besteuerung von künstlicher Intelligenz in Big Data-Konzernen, die wenige Arbeitsplätze schaffen und hohe Umsätze erzielen, nachdenken sollte.

Es geht an dieser Stelle nicht darum, konkret über die Höhe eines Grundeinkommens zu diskutieren, sondern darum, die Debatte über dieses Modell politisch auf die Agenda zu setzen. Götz Werner, der Gründer der Drogeriemarktkette DM, spricht sich als profilierte Unternehmerpersönlichkeit ebenfalls für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens aus. Die bisherigen Testversuche, die das Etikett ‚bedingungsloses Grundeinkommen‘ fälschlich verwendeten, wie etwa eine staatliche Alimentierung von 1.000 Arbeitslosen auf fünf Jahre seit 2019 im Land Berlin, wurden nie flächendeckend erprobt und haben oftmals nichts mit dem eigentlichen Konzept zu tun. Es stellt sich zudem die Grundfrage: Wollen wir in Angst und Unsicherheit leben oder mit einer gesicherten Perspektive, um die individuellen Fähigkeiten und Talente jedes Einzelnen stärker zur Entfaltung zu bringen? Dieser Aushandlungsprozess, wie wir Arbeit, Leben und Arbeitsleben in unserer Gesellschaft zukünftig gestalten, wird von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der sozialen Marktwirtschaft und der Sozialdemokratischen Partei sein.