Außenwirtschaftspolitik: Mitgestalten statt nur verwalten

Als ich im November 2020 vom Abschluss des seit Langem verhandelten Freihandelsabkommens RCEP (Regional Comprehensive Economic Partnership) in der Asien-Pazifik-Region erfuhr, hat mich das zum Nachdenken angeregt. Welche Rolle spielen Deutschland und Europa dabei? Dieses Abkommen zwischen der Volksrepublik China, Japan, Südkorea, Australien, Neuseeland und den zehn südostasiatischen ASEAN-Staaten ist nun die größte Freihandelszone der Welt und umfasst über zwei Milliarden Menschen und etwa 30 % der Weltwirtschaft.

Die Tatsache, dass Länder mit derart völlig verschiedenen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen wie Australien und China sich auf eine interessengeleitete, wirtschaftliche Zusammenarbeit einigen können, bietet sehr gute Gründe, über die gegenwärtige Außenwirtschaftspolitik Deutschlands einmal genauer nachzudenken. Während in Asien mit RCEP eine zukunftsfähige Struktur zur Wiederbelebung der internationalen Handelsbeziehungen nach Corona geschaffen wurde, verharren Deutschland und Europa in einer passiven Beobachterrolle und überholten Denkmodellen. Die erfolgreiche Einigung im Falle des RCEP-Abkommens zeigt, dass eine Kooperation auf der Basis von Interessen und gemeinsamem Nutzen auch jenseits der Grenzen von politischen System möglich, ja notwendig ist.

Es gibt in unserer heutigen globalisierten Welt keine prosperierenden Zukunftsperspektiven, wenn man sich ausschließlich auf Verbindungen aus dem letzten Jahrhundert verlässt. Die Bedingungen der Weltkriege, der Zwischenkriegszeit und des Kalten Krieges waren völlig andere, als wir sie nun vorfinden. So stellt sich nach den vier Jahren der Trump-Administration die Frage, wie wir als Deutsche und Europäer die Beziehungen mit unserem traditionellen Partner, den Vereinigten Staaten, in der Zukunft ausgestalten wollen. Wir befinden uns in einer geografischen und ebenso politischen Mittellage zwischen den USA, unserem unmittelbaren Nachbarn Russland und der aufstrebenden Weltmacht China. Unsere europäische Nachbarschaft wird von Regionen gesäumt, die ein großes Entwicklungspotential besitzen, aber auch vor enormen Herausforderungen und Veränderungsprozessen stehen. Ich denke hierbei an Afrika, Zentralasien und den Südkaukasus sowie den Mittleren Osten und die arabische Welt.

In Deutschland bilden kleine und mittelständische Betriebe sowie Familien- und Traditionsunternehmen die Basis unserer Volkswirtschaft, auf deren weltweit nachgefragte Produkte und Dienstleistungen wir mit gutem Recht stolz sein dürfen. Durch zahlreiche selbst auferlegte Einschränkungen ist es soliden deutschen Betrieben gegenwärtig aber nicht mehr möglich, in vielen der oben erwähnten Wachstumsmärkte unternehmerisch tätig zu werden. Neben dem Gütesiegel „Made in Germany“ müssen wir uns überlegen, ob wir uns diese Barrieren noch weiterhin leisten können und wollen. Wir brauchen ein umfassendes Netzwerk an starken und verlässlichen außenwirtschaftlichen Partnerschaften im Interesse unseres Mittelstandes und der damit unmittelbar verbundenen Millionen von Arbeitsplätzen. Damit wir die Gespräche, die zum Aufbau solcher Partnerschaften unbedingt erforderlich sind, überhaupt führen können, benötigen wir einen pragmatischen Ausgleich zwischen den Werten, denen wir uns verpflichtet fühlen und den nüchternen Interessen, die wir wie jedes andere Land auch in der Außenpolitik verfolgen. Egon Bahr, der gemeinsam mit Willy Brandt als Architekt der deutschen Ostpolitik in die Geschichtsbücher einging, wusste bereits: Bei Verhandlungen zwischen Staaten geht es in erster Linie immer um Interessen. Dieser nüchternen Erkenntnis, die eine der wesentlichen Grundlagen für die spätere deutsche Wiedervereinigung bildete, sollten wir uns in der Gegenwart wieder stärker bewusst werden.

Deutsche Außenpolitik ist immer auch in einer europäischen Dimension zu betrachten. Die historische Erfahrung, dass man nicht auf den schießt, den man kennt, ist von unbeschreiblichem Wert und hat durch den intensiven Austausch mit Frankreich seit Schulzeiten mein persönliches Denken und die Begeisterung für internationale Begegnungen geprägt. Deutschland muss eine Vorbildfunktion für andere EU-Staaten einnehmen, wenn die EU als Ganzes aufgrund unterschiedlicher Prioritäten und Interessen sich hier nur langsam voran bewegt. Als führende Volkswirtschaft in Europa sollten wir einerseits auf mehr globale wirtschaftliche Verflechtungen aktiv hinwirken, zum Anderen auch die Wirkung und Sinnhaftigkeit von Sanktionen vor dem Hintergrund der Wirkungen auf deutsche Exporte kritisch überprüfen. Deutschland – und damit auch Europa – muss als aktiver Verhandlungspartner auftreten, anstatt nur zuschauend und von außen belehrend wahrgenommen zu werden. Nur mit dieser Perspektive sehe ich eine Chance, dass das nächste Freihandelsabkommen in einer solchen globalen Dimension mit Deutschland verhandelt und erfolgreich abgeschlossen wird. Aber bis dahin dürfen wir nicht tatenlos bleiben!