Visionen für den Wirtschaftsstandort Deutschland

Die Weltwirtschaft befindet sich im beginnenden dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess. Wenngleich die Globalisierung die nationalen Volkswirtschaften mittlerweile auf verschiedenste Weise miteinander vernetzt und verknüpft hat, so gibt es doch weiterhin spezifische Herausforderungen auf der Ebene der einzelnen Länder. Klassische Industrienationen sind anders von diesem Wandel beeinflusst als Entwicklungs- oder Schwellenländer. Deutschland als traditionell starker Wirtschaftsstandort, ehemaliger Exportweltmeister und nach wie vor international führende Exportnation sowie größte Volkswirtschaft innerhalb der EU steht mit Blick auf die nächsten Jahre vor zahlreichen Herausforderungen. Einige dieser politischen Aufgaben sowie Lösungsansätze für die drängenden wirtschaftspolitischen Fragen skizziere ich hier.

Die Digitalisierung ist in den letzten Jahren rapide vorangeschritten. Der damit einhergehende Strukturwandel der Wirtschaft hat sich infolge der Corona-Krise nochmals enorm beschleunigt. Die Frage der digitalen Infrastruktur wird der entscheidende Standortfaktor der Zukunft sein. Es ist daher unerlässlich, dass wir in Deutschland weiter und in noch stärkerem Maße den Ausbau der Netz- und Telekommunikationsinfrastruktur vorantreiben. Hierzu bedarf es einer Offenheit für neue internationale Partnerschaften und den politischen Willen, Veränderungen aktiv zu gestalten anstatt nur zu verwalten.

Unserem Ingenieurswesen kommt eine tragende Rolle als Säule der deutschen Wirtschaft zu. Die bisher führenden Branchen der deutschen Automobilindustrie und des Maschinenbaus sowie die damit verbundenen Zulieferer stellen Millionen hochwertiger Arbeitsplätze. Um die Zukunft dieser Branchen zu sichern, bedarf es aktiver Unterstützung seitens der Politik und eines gestaltenden, nicht jedoch bevormundenden Staates in der Wirtschaft. Dazu gehören auch neue Ideen für innovative Nutzungskonzepte der vorhandenen Flächen und Infrastrukturen. Ein Beispiel hierfür aus Berlin ist die Nachnutzung des Geländes des Flughafens Berlin Tegel, auf dem neben Tausenden neuer Wohneinheiten auch der neue Standort der Beuth Hochschule für Technik Berlin sowie Gewerbeflächen für kleine und mittelständische Betriebe entstehen. Mit Blick auf die Erschließung solcher Möglichkeiten sind die politischen Entscheidungsträger gefordert, die Zugänge zur Finanzierung von Investitionen und die administrativen Vorgänge bei Genehmigungsverfahren für Unternehmer zu erleichtern. Wir müssen unternehmerisches Handeln stärker fördern und unterstützen, anstatt ständig weitere Hürden in den Weg zu legen.

Der Mittelstand ist die Herzkammer der deutschen Wirtschaft. Ohne die mittelständischen Firmen, zahlreiche davon über mehrere Generationen familiengeführt, hätte Deutschland niemals seine heutige wirtschaftliche Stärke erlangt und bewahrt. Der deutsche Mittelstand genießt aus guten Gründen auch international eine hervorragende Reputation, denn Tugenden wie Fleiß, Pflichtbewusstsein und die soziale Verantwortung des Unternehmertums werden hier großgeschrieben. Die unzähligen Projekte und Aktivitäten aus dem sozialen und kulturellen Bereich in unserem Land, die von Mittelständlern finanziell getragen und ideell angestoßen werden, legen ein beeindruckendes Zeugnis darüber ab. Das Engagement globaler Konzerne wie beispielsweise der neue Tesla-Standort in Brandenburg schafft wichtige ergänzende Angebote hierzu, kann die Dynamik und Verwurzelung des Mittelstandes aber nicht ersetzen und soll diese auch nicht verdrängen. Traditionelle mittelständische Tugenden wie Fleiß, Disziplin, Qualität und Zuverlässigkeit waren letztendlich zentrale Wegbereiter des ‚Wohlstands für alle‘.

Neben dem Mittelstand verdient insbesondere das deutsche Handwerk die verstärkte Aufmerksamkeit seitens der Politik. Unser duales Ausbildungssystem, das eine einzigartige Kombination aus theoretischer Wissensvermittlung und praktischer Anwendung bietet, dient weltweit als Vorbild für zahlreiche Länder bei der Konzeption und Entwicklung betrieblicher Ausbildungssysteme. Zugleich müssen wir bei nüchterner Betrachtung feststellen, dass die Grundlagen dieses Systems auch bei uns für die Zukunft gesichert und selbst wieder gestärkt werden müssen. Neben der politischen Unterstützung für die handwerkliche Lehre, die in den letzten Jahren zunehmend durch das Studium verdrängt wurde und heute vielen jungen Menschen zu Unrecht als unattraktiv erscheint, dürfen wir insbesondere die ausbildenden Betriebe nicht vernachlässigen. Während hauptsächlich kleine und mittelständische Betriebe ausbilden und damit substantiell in zukünftige Fachkräfte investieren, entscheiden sich immer mehr Berufseinsteiger nach der Ausbildung für attraktive Angebote von Großkonzernen. Damit auch in Zukunft genügend Ausbildungsplätze angeboten werden, sollte die Großindustrie angemessene Ausgleichszahlungen an kleinere Handwerksbetriebe leisten oder eine gewisse Arbeitszeit im ausbildenden Betrieb im Anschluss an die abgeschlossene Ausbildung vertraglich vereinbart werden. Aus meiner Sicht verdient eine erfolgreiche Berufsausbildung vom Lehrling über den Gesellen bis zum Meister dieselbe gesellschaftliche Anerkennung wie ein Studienabschluss oder eine Promotion.

Zusätzlich zur Ausbildung von Fachkräften, die wir trotz eigener Kapazitäten auch zukünftig in einem verantwortungsvollen Maß durch ausländische Experten werden ergänzen müssen, spielt die Förderung einer Gründerkultur eine wichtige Rolle für die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes. Die Entscheidung für eine selbstständige Tätigkeit muss durch Bürokratieabbau und ein gesellschaftliches Klima, das eine ‚Kultur des konstruktiven Scheiterns‘ , wie beispielsweise in den USA, sozial akzeptiert anstatt lebenslang ächtet, wäre hier ein notwendiger Fortschritt, den es politisch zu flankieren gilt. Freiberufler, Kleinstunternehmen und die Startup-Branche verdienen eine stärkere Unterstützung gerade auch sozialdemokratischer Politik, denn diese Berufsgruppen haben den klassischen Fabrikarbeiter mit Tarifvertrag in der Realität längst ersetzt. Der Wandel der Arbeitswelt und damit auch die flexiblere Gestaltung von Arbeitsverhältnissen stellen politische Entscheidungen vor die Herausforderung, angemessen zu reagieren und einen Rahmen zu setzen, der eine oder auch mehrere existenzsichernde, selbstständige Tätigkeiten auch im kleineren Rahmen ermöglicht.

Dazu bedarf es der Anpassung der verschiedenen Lebens- und Geschäftsbedingungen in unserem föderalen Staatsaufbau auf ein gewisses Mindestniveau. Die Schaffung gleichwertiger Lebens- und Arbeitsverhältnisse und damit die Stärkung der wirtschaftlichen Struktur von Regionen ist heute nicht mehr nur eine Frage zwischen Ost- und Westdeutschland, sondern auch zwischen den Metropolen und dem ländlichen Raum. Bei letzterem Aspekt stellt sich auch die Frage nach der Bereitschaft der Banken, ausreichend Kapital für Mittelständler zur Verfügung zu stellen. Der infolge des Basel IV-Abkommens deutlich erhöhte Bedarf an Eigenkapital für Unternehmungen und die Zurückhaltung der Banken, angemessene Kredite zur Verfügung zu stellen, haben sich in den letzten Jahren zu einem enormen Investitionshemmnis entwickelt. Aber wer trägt die Risiken? Muss die Politik hier gezielt eingreifen, beispielsweise in Form von Übernahmegarantien für förderungswürdige Investitionen im öffentlichen Interesse? Andernfalls drohen unserem Land wohl extreme Verluste von Kapital und Unternehmergeist, die dann anderswohin abwandern.

Die Außenwirtschaft wird eine steigende Bedeutung für Deutschland erlangen. Nicht nur infolge des Wiederaufbaus der Weltwirtschaft nach Corona, auch aufgrund unserer globalen Mittellage sind wir auf stabile und verlässliche Außenhandelsbeziehungen zu verschiedenen Partnern angewiesen. Neben unseren traditionellen Handelspartnern aus der Europäischen Union und den USA sowie Kanada gilt es ebenso, die wirtschaftlichen Beziehungen mit Russland als Europas unmittelbarem Nachbarn zu festigen und die Beziehungen zu China und Indien basierend auf wechselseitigem Nutzen auszubauen. Als rohstoffarmes Land sind wir auf zuverlässige Partnerschaften und sichere Lieferketten im Energie- und Rohstoffsektor unbedingt angewiesen, um unseren Bedarf an diesen Gütern zu decken. Neben Russland spielen hier aus meiner Sicht insbesondere die Länder Zentralasiens und des Südkaukasus eine wachsende Bedeutung für unsere außenwirtschaftlichen Schwerpunkte. Damit globale Wertschöpfungsketten auch in der Zukunft durch und nicht um Deutschland herum laufen gilt es, die multilaterale und regelbasierte Ordnung in der Weltwirtschaft zu sichern. Dazu gehört aus meiner Sicht auch, Initiativen aus anderen Weltregionen konstruktiv auf mögliche Kooperationsansätze zu prüfen. Unsere oben erwähnten, traditionellen Branchen leben von Exporten und die ‚New Economy‘ findet ohnehin in einer globalisierten Welt statt. Deutschland sollte die Chancen nutzen, die das von China initiierte Projekt einer „Neuen Seidenstraße“ verspricht, zugleich aber die eigenen Interessen nicht aus dem Blick verlieren. Alle diese Aspekte zeigen, wie vielfältig die aktuellen Herausforderungen sind. Darin liegen große Chancen, die wir jetzt politisch gestalten müssen, um auch in der Zukunft als global führender Wirtschaftsstandort bestehen zu können und damit den hier in Deutschland zur Gewohnheit gewordenen Standard der Lebenshaltung dauerhaft zu sichern. Um dies zu erreichen, sollten wir uns auf die Erfolgsgeschichte des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg besinnen und diese historische Entwicklung auch den jungen Generationen wieder vor Augen führen, um unternehmerische Tugenden zu fördern.