Meine Sozialisation als Europäer

Als Schüler habe ich in meinem Heimatort Obrigheim in der Pfalz gerne Fußball gespielt – und das auch gegen die Mannschaft aus unserer französischen Partnergemeinde Crèvecœur-le-Grand. Deshalb entschied ich mich in der 5. Klasse als erste Fremdsprache Französisch zu erlernen und schon bald nahm ich an ersten Austauschen zwischen den Gemeinden teil. Aus den Begegnungen und dem gemeinsamen Kicken in dieser Zeit sind tolle Freundschaften entstanden, die bis heute bestehen. Durch diese Prägung erwachte in mir die Begeisterung für die deutsch-französische Freundschaft, die Europa ein elementares Fundament gibt.

Crèvecœur-le-Grand, mit Partnerfamilie Fantaine bei einem Tagesausflug in die Normandie im Oktober 1997

Eine zweite enge Bindung ergab sich nach Auxerre, der Partnerstadt von Worms, wo ich während der Schulzeit mehrmals beim Schüleraustausch dabei war. Damals spielte die Fußballmannschaft von Auxerre in der Ersten französischen Division, ein Stadionbesuch mit Anfeuerungsrufen „Allez Auxerre“ war also Pflicht.

Doch nicht nur diese schöne Erinnerung ist geblieben, vor allem auch die Erfahrung, durch persönliches Kennenlernen ein Verständnis für den Gegenüber zu finden, ihn zu akzeptieren und zu mögen, ihn als Freund zu haben und nicht mehr wie in früheren Generationen als Feind anzusehen.

Geprägt durch diese Erfahrungen mit Frankreich erwachte in mir zunehmend die grundsätzliche Leidenschaft für internationale Begegnungen und den Austausch mit anderen Ländern und Kulturen.

Ins Gespräch kommen, sich näher kommen und sich austauschen, all das geht viel besser mit einem guten Tropfen Wein. Dass dieser nicht nur in Frankreich wächst erlebten viele Gäste in der Deutschen Botschaft in Paris im Sommer 2007. Als Stadtbürgermeister durfte ich eine Delegation aus Rheinhessen  anführen, um auf Einladung von Botschafter Klaus Neubert an den Feierlichkeiten anlässlich des 20-jährigen Bestehens der Partnerschaft zwischen Paris und Berlin teilzunehmen. Gemeinsam mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit, der diese Teilnahme überhaupt erst möglich gemacht hatte, kredenzten wir den Gästen vorzügliche Weine und Sekte aus der Staatlichen Weinbaudomäne Oppenheim, deren Leiter für Fachfragen zur Verfügung stand. Am Ende waren Deutsche und Franzosen aus Paris überrascht von den edlen Tropfen aus Deutschland. Auch eine Erfahrung, die ohne die persönliche Begegnung nicht möglich gewesen wäre.

Im Sommer 2008 folgte ein Besuch in Oppenheims französischer Partnerstadt Givry, die in diesem Jahr das 25-jährige Jubiläum der Städtepartnerschaft feierte. Ich begleitete eine fast 70-köpfige Delegation aus Oppenheim zu dem Zeremoniell nach Burgund. Oppenheim unterhält ein historisch gewachsenes Netzwerk von Städtepartnerschaften, deren Aktivitäten sich während meiner drei Amtsperioden als Stadtbürgermeister erweitern und in der Stadtgemeinschaft festigen konnten.

Neben Givry in Frankreich und Sant’ Ambrogio in Italien bestehen weitere Städtepartnerschaften mit Adnet in Österreich,

Calpe in Spanien und Werder an der Havel, die noch während der Teilung Deutschlands geschlossen wurde.

Da die Partnerschaften für mich eine hohe Bedeutung haben, engagierte ich über mehrere Jahre hinweg im Vorstand des  Partnerschaftsverbandes Rheinland-Pfalz/Burgund für Rheinhessen. Während der jährlichen Mitgliederversammlung kamen zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der Partnerschaftsinitiativen aus den beiden Regionen im Landtag in Mainz zusammen, um sich intensiv auszutauschen. Wir hatten allerdings auch große Herausforderungen, denn in den Partnerschaftsvereinen vor Ort brachten sich immer weniger junge Menschen ein. Die ursprüngliche Motivation zur Gründung von Partnerschaften, nämlich die schlimmen Erfahrungen der Weltkriege, die sich nie wiederholen sollten, und die Tatsache, dass man nie auf einen Menschen schießt, den man kennt und schätzt, schien nicht mehr vorhanden zu sein. Zur Jahrtausendwende waren wir ein einiges Europa mit offenen Grenzen und einer gemeinsamen Währung. „Wozu da noch Partnerschaften?“, fragten sich sicher einige junge Menschen, die für einen Auslandsaufenthalt eher China oder Australien wählten, anstatt Paris oder London kennenzulernen. Diese Entwicklung sollte sich leider rächen, was am Brexit und vielen Regierungen in Europa erkennbar ist, die mit Vorurteilen und Extrempositionen ihre Mehrheiten organisieren.

Besonders deutlich wurde mir diese Entwicklung beim Besuch einer Schulklasse aus Kościan im Jahr 2016 im Bundestag. Als mich 17-Jährige fragten, wann Deutschland den nächsten Überfall auf Polen plane und mir erklärten, dass Flüchtlinge so viele Krankheiten hätten, dass man verhindern müsse, dass auch nur ein Einziger in polnische Orte komme, begann ich zu begreifen, dass wir in Europa um Lichtjahre zurück gefallen sind. Dass junge Menschen nicht überwiegend die Chancen für ein Leben in Frieden und Freiheit erkennen, welches ihre Vorfahren für unerreichbar hielten, macht mich immer noch fassungslos.

Schülergruppen wie hier aus Polen, treffe ich regelmäßig zu Gesprächen im Bundestag

Es gibt also noch viel zu tun in den europäischen und internationalen Beziehungen. Und wenn es eine Möglichkeit gibt, sich auch ohne die Sprache des anderen zu beherrschen zu begegnen, dann ist das der Sport. Als Bürgermeister habe ich von 2006 an alle zwei Jahre die Mini-WM und die Mini-EM für Jugendmannschaften in Rheinhessen durchgeführt.

Es war immer viel Arbeit, aber die hat sich wirklich gelohnt. Neben dem Sport kam aber auch die Begegnung nicht zu kurz: Für die Abschlussfeier mit Siegerehrung lud ich die Botschafter und Generalkonsuln der Länder auf den Marktplatz ein, die am Turnier der Erwachsenen teilnahmen. Und für viele Kinder war es etwas Besonderes, aus den Händen des südkoreanischen Kulturattachés ein Andenken zu bekommen, vom türkischen Konsul etwas Süßes zu erhalten oder von den US-Amerikanern ein Poster der dortigen Idole entgegenzunehmen. Ich glaube, das wird junge Menschen positiv prägen – denn man schießt nie auf jemanden, den man kennt!

Mehr zur Mini-EM oder WM unter: https://heldmarcus.de/mini-ems-und-wms/