Europas Zukunft

„Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“ –  schrieb einst Heinrich Heine. Wenngleich unser Land auch heute noch vor großen Herausforderungen steht, kann man dieses Zitat ebenso gut auf Europa anwenden.

Doch was ist Europa eigentlich? Einfach blos ein Kontinent? Eine Idee? Viele jedenfalls denken, wenn man von Europa spricht, oft direkt an die Europäische Union. Diese steht mit ihren vielen freiheitlichen Errungenschaften und ihrer Philosophie der friedlichen Verständigung unter Europas Völkern sicher für eine einmalige Leistung.

Doch selbst wenn man den Begriff Europa auf die Europäische Union (EU) verengt stellen sich die gleichen Fragen: Was bedeutet EU? Was ist EU? Für die einen ist EU eine gegebene natürliche Sache, sind Reise-, Warenverkehrs, und Arbeitsnehmerfreizügigkeit eine Selbstverständlichkeit, deren Sinnhaftigkeit außer Frage steht, die aber zugleich als selbstverständlich hingenommen werden. Für die anderen bedeutet EU ein überflüssiges Administrationsungeheuer, das seine Mitgliedsstaaten nur unnötiges Geld kostet, ohne dabei einen echten Mehrwert zu liefern. Die Graustufen zwischen diesen beiden und weiteren extremen Positionen, sind zahlreich.

Für mich, der ich persönlich sehr durch die deutsch-französische Freundschaft geprägt wurde, ist der Aspekt der friedlichen Begegnung von Menschen, die sich zuvor verfeindet gegenüberstanden, die historische Basis des modernen, geeinten Europa. Die Idee, nie wieder Krieg gegeneinander zu führen,  wurde von bedeutenden Persönlichkeiten nach dem Zweiten Weltkrieg politisch ausgestaltet.

Doch Geschichte dieser europäischen Einigung scheint selbst für viele jüngeren Menschen, für die Erasmussemester und Reisefreiheit mittlerweile zum Alltag gehören, weit entfernt. In vielen Gesprächen mit Schülerinnen und Schülern, mit Studentinnen und und Studenten erlebe ich häufig die eingangs beschriebene, kritische  Wahrnehmung von Europa als alltagsferne Bürokratieinstitution. Dass gerade diese jungen, gebildeten Menschen den europäischen Einigungsprozess und seine Errungenschaften nicht mehr als etwas Positives definieren, stimmt mich sehr nachdenklich.

Ich musste feststellen, dass für diese Generation Europa mittlerweile nicht mehr in erster Linie eine Chance ist, sondern zunehmend als Problem wahrgenommen wird, und zwar egal ob die jungen Menschen aus Frankreich, Italien oder Polen kommen. Die Freizügigkeit innerhalb Europas in Bezug auf Berufsausübung und Freizeit wird als selbstverständlich oder gar nicht erstrebenswert wahrgenommen. Im letzten Sommer erzählte mir ein Maschinenbaustudent aus Bologna, wie teuer die EU für den italienischen Steuerzahler sei und wie viel besser die italienische Regierung das Geld in Projekte innerhalb ihres Landes investieren könnte. Gerade deshalb bin ich davon überzeugt, dass wir uns politisch sehr viel stärker um die Europapolitik kümmern müssen. Wie soll das Europa der Zukunft aussehen? Ein paar Leitlinien möchte ich hier als Denkanregungen formulieren:

Zunächst stellt sich die grundsätzliche Frage: Sind wir bereit, das Verbindende wieder stärker in den Mittelpunkt des politischen Handelns zu stellen, oder wollen wir unterschiedliche Auffassungen einzelner EU-Mitgliedsstaaten wie aktuell immer wieder in Bezug auf Polen oder Ungarn in das Zentrum der Debatte um Europa rücken? Aus meiner Sicht sollten wir uns klar auf Ersteres fokussieren.

Wenn wir auf internationaler Ebene als Europa ernst genommen werden wollen, müssen wir die Grundlagen dafür im Innern schaffen. Meinungsverschiedenheiten in Sachfragen kann und muss es geben, es darf auch kein „richtig“ oder „falsch“ geben, wenn Regierungen demokratisch gewählt wurden und den Willen der Mehrheit ihres Volkes repräsentieren. Denn: Gelingt uns dieser Reformprozess nicht, haben wir als Europäer wenig Chancen, zwischen den Interessen Amerikas, Chinas und Russlands einen eigenen Platz auf dem weltpolitischen Parkett zu finden und auch wirtschaftlich weiterhin führend agieren zu können.

Es darf nicht weiter so sein, dass die Differenzen zwischen den einzelnen Staaten zum Kernthema der politischen Berichterstattung über Europa werden. Denn so fällt es externen Interessen zunehmend leicht, mit ihren eigenen Interessen hier aktiv zu werden, die jedenfalls nicht deckungsgleich mit denjenigen eines starken Europas sind. So hat der Diskurs um die Entwicklung in einigen mitteleuropäischen EU-Partnerländern verstärkt dazu beigetragen, dass diese sich nun für eine engere Zusammenarbeit mit China oder Russland öffnen. Das ist grundsätzlich eine legitime Entscheidung souveräner Staaten, steht allerdings in der Praxis der innereuropäischen Zusammenarbeit, die aus meiner Sicht die erste Priorität bleiben sollte, zunehmend entgegen. Es verstärkt sich Misstrauen statt Freundschaft. Wenn beispielsweise Ungarn sich dafür entscheidet, dem russischen Sputnik V-Impfstoff den Vorzug gegenüber europäischen Alternativen zur Bekämpfung der Corona-Krise einzuräumen, sollten wir uns als Europäer fragen, ob das langfristig der richtige Weg ist. Ein weiteres Beispiel ist die Außenpolitik Serbiens, das als EU-Beitrittskandidat zugleich seine Kooperation mit China und Russland zur Bekämpfung von Corona intensiviert, da aus Brüssel keine entsprechenden Angebote unterbreitet wurden. Die europäische Integration der Westbalkanstaaten, die ohnehin ein mühseliger, aber definitiv erstrebenswerter Prozess ist, wird somit verlangsamt, da andere Weltmächte scheinbar attraktivere Angebote zur Kooperation unterbreiten, als Europa in seiner direkten Nachbarschaft.

Ähnlich verhält es sich mit den Beziehungen Europas zur Türkei. Die Politik der türkischen Regierung bietet oftmals genügend Anlässe für eine kritische Diskussion. Fakt ist aber zugleich, dass wir allein schon durch die mehreren Millionen Bürgerinnen und Bürger türkischer Herkunft in Deutschland sehr enge Beziehungen mit der Türkei haben. Es führt nicht zu einer innenpolitisch stärkeren Einbindung dieser Bürgerinnen und Bürger, wenn wir in Bezug auf die Türkei außenpolitisch weiter eskalierend einwirken. Die Türkei ist darüber hinaus ebenfalls ein Partnerland in der NATO und die seitens des EU-Gipfels 2020 beschlossenen Sanktionen gegen die Türkei wirken hier aus meiner Sicht kontraproduktiv. Europa braucht ein Netzwerk der guten nachbarschaftlichen Beziehungen und Deutschland als größte Volkswirtschaft der EU spielt hierbei eine zentrale Rolle, diese Bedingungen zu schaffen und auszubauen.

Um diese Aufgaben zukünftig politisch gestalten zu können, bedarf es einer neuen Begeisterung für das europäische Projekt über die Parteigrenzen hinweg in Deutschland. Dafür müssen wir insbesondere die Möglichkeiten zum persönlichen Austausch weiter intensivieren. Das Erasmus-Programm ist eine großartige Initiative und vermittelt zahlreichen jungen Menschen ein prägendes, positives Europa-Erlebnis. Hier sollten wir aus meiner Sicht ansetzen, denn Europa beginnt nicht erst mit einem Studium. Bereits in den Schulen aller Art, aber auch in Ausbildungsstätten müssen bestehende Programme zur Förderung des europäischen Austauschs stärker genutzt und weitergehende Möglichkeiten für bisher nicht oder wenig erreichte gesellschaftliche Gruppen aufgesetzt werden. Die persönliche Begegnung in der Schule, bei der gemeinsamen Arbeit, in der Freizeit und beim Sport kann als beste Form gelebter europäischer Erfahrungen nicht ersetzt werden. Dort wo Sprachkenntnisse manchmal Hindernisse zu sein scheinen, ist gerade der Sport über den Austausch von Vereinen und Mannschaften die beste Möglichkeit für europäische Erlebnisse im Alltag.

Durch meine langjährigen Erfahrungen als Kommunalpolitiker und Beauftragter im Partnerschaftsverband Rheinland-Pfalz/Burgund weiß ich um die Bedeutung der Städtepartnerschaften auf lokaler Ebene. Bei Austauschen auf diesen Ebenen, die wir umfassend fördern und mit Leben erfüllen sollten, wird den Teilnehmern oftmals deutlich, dass es nicht nur EINEN  richtigen Weg im Leben gibt. Hier lernen die Bürgerinnen und Bürger die Lebensarten und Traditionen der Partner in anderen Ländern, oft geprägt durch persönliche, familiäre Bindungen am tiefsten kennen und schätzen. Die Erfahrung der verschiedenen Lebensarten, die dem europäischen Leitgedanken „In Vielfalt geeint“ entspricht, muss nach meiner Überzeugung ein fester Bestandteil in unseren Lehr- und Bildungsplänen in den Schulen werden.

Aus unzähligen Gesprächen mit engagierten Bürgerinnen und Bürgern, Partnerschaftsbeauftragten der Städte und Landkreise und auch aus dem kontinuierlichen Austausch mit den Botschaftern unserer europäischen Partnerländer habe ich gelernt, dass wir auch neue politische Dimensionen für Europa erschließen sollten. Ich denke hierbei zum Beispiel an die Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik. Deutschland sollte hier die unterschiedlichen Bedürfnisse und Perspektiven der europäischen Freunde stärker berücksichtigen. Mit der dauerhaften Forderung nach einer rigiden Sparpolitik in Europa durch die Bundesregierung in den letzten Jahren kommen wir nicht weiter. Auch wir Deutsche müssen lernen, dass Entscheidungen in Sachfragen auch mal nicht so getroffen werden können, wie wir es für richtig empfinden. Deutschland hat den Schlüssel für einen europäischen Erfolg in der Hand, denn gerade in diesem Punkt sind dauerhafte, stabile politische Mehrheiten im europäischen Interesse nur durch eine Kurskorrektur deutscher Politik zu gewinnen. Eng damit verbunden ist die Sozial- und Gesundheitspolitik, die mit entsprechenden Finanzmitteln aus Brüssel für alle Bürgerinnen und Bürger Europas ausgestattet werden muss. Die Debatte um den Corona-Impfstoff hat jüngst deutlich gezeigt, zu welchen sensiblen Reaktionen es führen kann, wenn Einzelstaaten egoistisch agieren. Die Idee von Europa bleibt aktuell, aber sie muss – ganz im Sinne Willy Brandts – auf der Höhe der Zeit neu ausgestaltet werden, wenn auch zukünftig Gutes durch Europa bewirkt werden soll. Dazu können wir alle einen kleinen Beitrag leisten. Es gibt nicht ein abstraktes Europa in Brüssel oder Straßburg. Europa, das sind über 500 Millionen Menschen, Europa, das sind wir alle!